Biss-Störung (CMD): Das fehlende Puzzleteil in der Migränebehandlung

Eine Hand umfasst das Kinn und den Kiefer einer Frau. Der Mund ist geöffnet und schmerzhaft verzogen. Kiefergelenkstörungen werden oft nicht mit Migräne in Verbindung gebracht. | © Марина Демешко - stock.adobe.com

Migräne ist mehr als nur starker Kopfschmerz. Sie wird zum Sturm im Denkzentrum, kündigt sich meist mit pochendem Schmerz, Übelkeit und Lichtempfindlichkeit an und setzt die Betroffenen mitunter tagelang außer Gefecht. Millionen Menschen weltweit leiden unter diesen Beschwerden, doch trotz zahlreicher Therapieansätze bleibt für viele die erhoffte Linderung aus. Allein in Deutschland klagen fast 15 Prozent der Frauen über wiederkehrende Kopfschmerzen, die als Migräne klassifiziert werden können.

Medikamente, Entspannungstechniken und Physiotherapie schaffen zwar kurzzeitige Erleichterung, allerdings scheint für einen Teil der Patienten und Patientinnen die Migräne eine unberechenbare Konstante zu sein.

Dabei gibt es eine anatomische und funktionelle Verbindung, die bei der Bekämpfung der Migräne erstaunlich oft übersehen wird: den Kiefer. Eine Fehlstellung im Kausystem kann eine zentrale Rolle spielen – und genau hier liegt möglicherweise der fehlende Schlüssel zu einer nachhaltigen Therapie.

Was macht Migräne gegenüber anderen Kopfschmerzen so hartnäckig?

Migräne unterscheidet sich gleich in mehreren Punkten deutlich von anderen regelmäßig auftretenden Beschwerden wie Spannungskopfschmerzen. Während Spannungskopfschmerzen nicht selten als dumpfer, drückender Schmerz beschrieben werden, der sich über den gesamten Kopf ausbreitet, tritt Migräne meist einseitig auf und wird von einem pulsierenden oder stechenden Schmerz flankiert. Hinzu kommen vielfach Begleitsymptome wie Übelkeit, Erbrechen oder Licht- und Geräuschempfindlichkeit, die die Betroffenen zusätzlich belasten.

Ein weiteres Merkmal der Migräne ist ihre Dauer und Intensität. Eine Attacke kann sowohl mehrere Stunden als auch einige Tage anhalten und so stark sein, dass selbst alltägliche Aktivitäten unmöglich werden. Manche Patienten und Patientinnen erleben zudem sogenannte „Aura“-Symptome (Sehstörungen, Taubheitsgefühle oder Sprachprobleme), die den Beginn ankündigen.

Während sich beispielsweise Spannungskopfschmerzen vorwiegend durch Bewegung oder frische Luft lindern lassen, verschlimmern sich Migräne in der Regel, sobald körperliche Aktivität betrieben wird. Bei einigen Betroffenen wiederholen sich die Migräneanfälle so häufig und intensiv, dass ein normales Leben kaum mehr möglich ist. Trotz Medikamenten und Hilfsmitteln leiden sie unter starken Schmerzen, die auf Dauer zu Depressionen bis hin zu Suizidgedanken führen können.

Warum herkömmliche Migränebehandlungen oft nicht ausreichen

Die klassische Behandlung der Migräne fokussiert sich meist auf Symptomlinderung. Schmerzmittel, Triptane, CGRP-Antikörper-Therapie oder Botox können akute Attacken dämpfen, während Stressbewältigung und Physiotherapie darauf abzielen, die Auslöser zu reduzieren. Doch wenn sich die Anfälle trotz aller Maßnahmen hartnäckig halten, steckt möglicherweise eine unerkannte Ursache dahinter.

Viele Betroffene leiden unwissentlich unter Verspannungen im Nacken-, Kopf- und Kieferbereich, ohne einen Zusammenhang zu erahnen. Dabei steht vor allem die Muskulatur des Kausystems in enger Wechselwirkung mit Nervenbahnen (Trigeminus-Nerv), die Kopfschmerzen auslösen können. „Ich sehe viele Patienten, die jahrelang vergeblich nach einer Lösung gesucht haben – ohne zu wissen, dass ihr Kiefer eine entscheidende Rolle spielt“, erklärt Dr. med. dent. Saeed Masouleh, Kieferorthopäde und Spezialist im Bereich Biss-Störung (CMD).

Die verborgene Verbindung zwischen CMD und Migräne

Im Rahmen der Diagnostik und Behandlung einer Migräne wird die Möglichkeit der Biss-Störung oder Kieferfehlstellung häufig außer Acht gelassen. Dabei könnte sie das fehlende Puzzleteil in einem ganzheitlichen Behandlungsansatz sein zumal die internationale Kopfschmerzdiagnostik im Abschnitt 11.7 der ICHD-3 ausdrücklich empfiehlt, eine CMD als mögliche Migräne-Ursache vor der Migräne-Diagnose auszuschließen bzw. zu behandeln – was in der Praxis jedoch kaum erfolgt.

Eine Biss-Störung – auch Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) genannt – liegt vor, wenn die Zähne beim Zubeißen nicht exakt aufeinander passen. Bereits minimale Fehlkontakte, oft unter 0,5 mm, reichen aus, um den Biss aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Sobald solche fehlerhaften Zahnkontakte bestehen, versucht der Körper, dieses Ungleichgewicht unbewusst durch asymmetrische Anspannung der Kaumuskulatur auszugleichen. Genau in diesem Moment werden reflexartig andere Muskelgruppen – insbesondere im Kopf-, Nacken-, Gesichts-, Schulter- und Rückenbereich – mit angespannt.
Da dieser Ausgleichsmechanismus bei jedem Schlucken (über 1.500 Mal täglich), beim Kauen, Knirschen oder unter Stress aktiv ist, gerät der Körper in einen dauerhaften Spannungszustand.

Die Folgen von CMD auf die umliegende Muskulatur
Eine Kieferfehlstehllung führt zu Spannungen in der umliegenden Muskulatur. © Dr. Saeed Masoulehn

 

Besonders kritisch: Die chronisch verspannte Gesichtsmuskulatur kann den sensiblen Trigeminusnerv reizen – einen der wichtigsten Gesichtsnerven. Wird dieser dauerhaft stimuliert, können wiederkehrende Migräneanfälle die Folge sein. 

Grafik: Wie CMD eine Migräne auslöst
Die Kieferfehlfunktion kann durch Muskelverspannungen zu einer Migräne führen. © Dr. Saeed Masouleh

Trotz dieser Zusammenhänge bleibt CMD oft unerkannt. Ein Grund: Die Beschwerden treten häufig nicht direkt am Kiefer auf, sondern zeigen sich z. B. als Migräne, Nackenverspannungen, Schwindel oder Rückenschmerzen – was den Bezug zur Zahnstellung verschleiert. Zudem erhalten viele Patienten und Patientinnen lediglich eine Aufbiss-Schiene zur Linderung der Symptome – diese kann kurzfristig helfen, behebt jedoch nicht die Ursache: die fehlerhaften Zahnkontakte.

Ein weiteres Problem: CMD wird meist auf Basis der Beschwerden im Kieferbereich diagnostiziert – nicht auf Grundlage der tatsächlichen Ursache. Das bedeutet: Die fehlerhaften Zahnkontakte bleiben oft unentdeckt, weil sie mit herkömmlichen Methoden schwer zu erkennen sind und häufig gar nicht gezielt untersucht und entsprechend behandelt werden.

Warum wird CMD so häufig übersehen?

  1. Die Fehlkontakte sind winzig und mit herkömmlichen Methoden kaum sichtbar.
    Die Symptome treten oft nicht im Kiefer auf, sondern z. B. als Migräne, Schwindel, Nackenschmerzen oder HWS-Beschwerden.
  2. Viele Patienten und Patientinnen bekommen Schienen, die in manchen Fällen kurzfristig helfen – doch weil sie die Ursache nicht beheben, bleibt eine langfristige Besserung meist aus.
  3. Auch bei scheinbar geraden Zähnen kann eine Biss-Störung (CMD) vorliegen.
  4. Das Bewusstsein fehlt, dass kleine Zahnabweichungen große Auswirkungen haben können.
  5. Die Diagnose erfolgt oft auf Basis von Kieferbeschwerden, nicht durch gezielte Ursachenforschung – weil die fehlerhaften Zahnkontakte schwer erkennbar sind.

Ein ganzheitlicher Behandlungsansatz für CMD

Während herkömmliche Aufbiss-Schienen meist nur als Schutz gegen Zähneknirschen zum Einsatz kommen, geht der Behandlungsansatz von Dr. Masouleh einen entscheidenden Schritt weiter. „Mein Ziel ist es, das natürliche Gleichgewicht des Kausystems wiederherzustellen – um die weitreichenden Auswirkungen eines gestörten Zusammenspiels der Zähne auf den gesamten Körper nachhaltig zu beseitigen. Und zwar so, dass langfristig keine Aufbissschiene mehr getragen werden muss.“, sagt der Experte.

Das Therapiekonzept beginnt mit einer präzisen Analyse des Kiefer-Funktionsapparats sowie der Zahnkontakte. Darauf basierend werden spezielle Schienen für Ober- und Unterkiefer individuell angefertigt. Diese haben zwei zentrale Funktionen: Erstens sorgen sie dafür, dass beim Zubeißen nur die Kaumuskeln harmonisch aktiviert werden, während Kiefergelenke und andere Muskelgruppen entspannt bleiben. Zweitens korrigieren sie durch gezielte, minimale kieferorthopädische Zahnbewegungen die fehlerhaften Kontakte. So wird die Ursache der Beschwerden schrittweise behoben – und die Schienen können nach einiger Zeit weggelassen werden. Ergänzend arbeitet er eng mit Physiotherapeuten und Neurologen zusammen, um den Therapieerfolg langfristig aufzubauen.

Die Kombination aus moderner Technologie und interdisziplinärer Kooperation eröffnet die Chance, Symptomatiken effektiv zu lindern und den Körper in ein natürliches Gleichgewicht zurückzuführen.

Herausforderung im alternativen Therapieansatz

Aktuell stützen sich viele Ansätze noch auf Studien und Erfahrungswerte. Zwar konnten bereits nachhaltige Erfolge erzielt werden, allerdings stellt die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen eine nicht unerhebliche Hürde dar, berichtet der Kieferorthopäde Dr. Masouleh. Obwohl viele Patienten und Patientinnen durch eine gezielte CMD-Therapie eine deutliche Besserung ihrer Migränebeschwerden erfahren, fehlt es bislang an flächendeckenden wissenschaftlichen Studien, die diese Zusammenhänge eindeutig belegen.

Krankenkassen orientieren sich in der Regel an etablierten Leitlinien und standardisierten Behandlungsmethoden – alternative oder ganzheitliche Ansätze werden daher oft nicht automatisch berücksichtigt.

Dr. Masouleh schildert aus seiner eigenen Erfahrung, dass Patienten und Patientinnen, die zuvor jahrelang unter Migräne litten und bei klassischen Therapien keine Besserung erfuhren, durch die gezielte CMD-Behandlung (Bisskorrektur) erhebliche Fortschritte gemacht haben. Dennoch besteht die Herausforderung, diese Erfolge auch in der wissenschaftlichen Forschung noch weiter zu untermauern, um langfristig eine breitere Anerkennung sowie eine angemessene Kostenübernahme durch die Krankenkassen zu erreichen.

Der Schlüssel zu einer nachhaltigen Migränetherapie

Migräne ist eine komplexe Erkrankung, die durch eine Vielzahl von Faktoren ausgelöst oder verstärkt werden kann – von Stress über hormonelle Schwankungen bis hin zu bestimmten Nahrungsmitteln. Jedoch bleibt ein entscheidender Aspekt bei den Behandlungen oftmals noch unbeachtet: die Rolle des Kiefers. Dabei zeigt sich immer wieder, dass eine Fehlfunktion im Kausystem erhebliche Auswirkungen auf die Kopf- und Nackenmuskulatur haben kann.

Gerade Patienten und Patientinnen, die bereits zahlreiche Therapieansätze ausprobiert haben – von Medikamenten über Physiotherapie bis hin zu alternativen Methoden – und dennoch keine nachhaltige Besserung erfahren, sollten in Betracht ziehen, dass die Ursache für ihre Beschwerden im Kiefer liegen könnte. „Fast alle Migränepatienten, die ich behandle, haben eine verborgene CMD und profitieren enorm von einer gezielten Bisskorrektur“, erklärt Dr. Masouleh. Eine unbemerkte Fehlstellung oder eine dauerhafte Überlastung der Kiefermuskulatur können die empfindlichen Nervenbahnen im Kopf beeinflussen und so wiederkehrende Schmerzen auslösen.

Betroffene, die seit Jahren vergeblich nach einer Lösung suchen, könnten nun dort fündig werden, wo sie es am wenigsten erwarten – im eigenen Biss. Eine präzise Diagnostik vermag darzustellen, ob eine Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) vorliegt und inwiefern eine gezielte Therapie helfen kann, die Spannung im Kausystem zu reduzieren und damit die Häufigkeit und Intensität der Migräneanfälle deutlich zu verringern.

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