Vorgeburtliche Bindungsanalyse: Mutter-Kind-Bindung vertiefen?

Bindung oder Bonding sind nicht nur geflügelte Begriffe in Erziehungswissenschaften und Psychologie, sie bestimmen auch Ihren Alltag. Wie eng fühlen Sie sich bis heute mit Mutter, Vater und Geschwistern verbunden? Wie ist der Zusammenhalt zu anderen Verwandten und Freunden? All das beeinflusst Ihren Lebensweg und Ihre Entscheidungen, so die Wissenschaft.

Die Mutter-Kind-Bindung ist dabei – mit wenigen Ausnahmen – der größte Faktor. Denn das Band mit der Person, die uns neun Monate austrägt, den Start ins Leben ebnet und beim Großwerden begleitet, ist für die meisten Menschen unzertrennlich. Die Vorgeburtliche Bindungsanalyse greift diesen Gedanken auf. Schon im Mutterleib will sie den festen Zusammenhalt zwischen Mutter und Kind stärken. Doch ist das so früh überhaupt möglich?

Die Bindung zwischen Mutter und Kind vor der Geburt

Experten bzw. Expertinnen und Laien sind sich einig: Mütter spüren schon lange vor der Geburt eine Verbindung zu ihrem Kind. Wie diese aussieht, ist sehr individuell. Manche sind voller Vorfreude oder fühlen sogar eine unbändige Liebe zu dem kleinen Wesen im Bauch, andere bleiben zurückhaltender oder kämpfen mit Ängsten. Zudem sind die äußeren Umstände entscheidend. Erstlingsmütter haben sehr viel mehr Zeit, sich (gedanklich) mit dem Baby zu beschäftigen als Gebärende mit einem, zwei oder mehr Kindern. Auch die Berufstätigkeit, die finanzielle Situation und die Beziehung zum Vater spielen eine wichtige Rolle. So ist jede Bindung zum Kind von Anfang an individuell.

Auch das Baby entwickelt schon im Bauch seine ganz eigene Verbindung zu Mama. Über die Nabelschnur bekommt es alle Gefühle der Mutter in Form von Hormonen mit. Untersuchungen haben gezeigt, dass es darauf reagiert. So lernt es von Anfang an, mit Emotionen umzugehen. Negative und positive Erfahrungen während der Schwangerschaft können deshalb ein wichtiger Faktor für die emotionale Entwicklung eines Kindes sein.

Das Ungeborene reagiert aber auch direkt auf die Mutter. Es mag ihre Stimme und Sprachmelodie, lacht mit ihr und kommt sogar näher, wenn sie die Hand auf den Bauch legt. Dabei geht es deutlich aktiver auf die Interaktionen der Mutter ein als auf die anderer Personen. Manche Experten bzw. Expertinnen vermuten darüber hinaus eine unsichtbare, unterbewusste Kommunikation während der Schwangerschaft; etwa wenn die Mutter im Geist mit dem Baby spricht oder ihm mentale Bilder schickt. Sie gehen davon aus, dass ungeborene Kinder diese wahrnehmen und auf dem gleichen Weg antworten können.

Das Bonding, also die Bildung der Bindung zwischen Mutter und Kind, beginnt damit schon lange vor der Geburt.

Die Theorie hinter der Vorgeburtlichen Bindungsanalyse

Die Vorgeburtliche Bindungsanalyse wurde von Dr. Jenö Raffai und seinem Kollegen Dr. György Hidas Anfang der 90er Jahre entwickelt. Der ungarische Psychotherapeut Raffai bemerkte bei seiner Arbeit mit Schizophrenen eine Bindungsstörung zu deren Mutter. Er führte sie auf ein Trauma während oder vor der Geburt zurück. Die Vorgeburtliche Bindungsanalyse war sein Weg, eine solche Entwicklung zu verhindern. Dafür konzipierten die beiden Ärzte eine Art Programm, um die Bindung von Mutter und ungeborenen Kind zu stärken. Auch wenn der Name es vermuten lässt, ist dieses kein Teil der Psychotherapie oder -analyse. Vielmehr geht es darum, Kind und Mutter Zeit zu geben, sich kennenzulernen. Oft ist dazu auch der Vater involviert. Das Ungeborene soll sich als eigenständiges Lebewesen wahrnehmen, das gehört wird. Zudem soll es – gemeinsam mit der Mutter - auf die Geburt vorbereitet werden.

Dr. Jenö Raffai testete die Vorgeburtliche Bindungsanalyse an mehreren Tausend Frauen. Auch in Österreich wird sie immer häufiger durchgeführt. In Deutschland ist sie dagegen noch relativ unbekannt. Nur vereinzelt bieten Hebammen entsprechende Sitzungen an.

Wie läuft die Vorgeburtliche Bindungsanalyse ab?

Etwa um die 20. Schwangerschaftswoche kann die Vorgeburtliche Bindungsanalyse starten. Ungefähr zwei Wochen vor dem Geburtstermin findet das letzte Treffen statt. Insgesamt werden so etwa 20 – 30 Sitzungen durchgeführt. Das Setting erinnert dabei sehr an die klassische Therapiesituation. Die Schwangere nimmt eine bequeme Position auf der Liege ein. Die Hände liegen oft auf dem Bauch.

Bei den ersten Treffen geht es zunächst um ein Kennenlernen zwischen der werdenden Mutter und der sie leitenden Person. Wie erlebt sie die Situation bisher? Welche vorherigen Erfahrungen mit Schwangerschaft und Geburt gibt es? Hat sie Ängste oder Zweifel? Nach und nach ergibt sich die Gelegenheit, sich in die eigenen Gefühle und Erlebnisse einzufühlen. Vom Blick auf sich selbst wenden sie sich schließlich dem Kind zu. Stück für Stück sendet die Schwangere mentale Bilder an das Baby im Bauch und fühlt sich in die Reaktion des Ungeborenen ein.

Gegen Ende spielt sie so auch immer wieder die Geburt durch. Was wird das Baby dabei erwarten? Wie läuft alles ab? Auch negative Empfindungen und Erlebnisse werden dabei thematisiert. Nach Abschluss der Vorgeburtlichen Bindungsanalyse kann die Schwangere zu Hause weiterüben.

Für wen ist die vorgeburtliche Bindungsanalyse?

Untersuchungen an etwa 2.000 Frauen haben gezeigt, dass die Vorgeburtliche Bindungsanalyse Geburtsvorgänge erleichtern kann. Bei ihnen waren weniger Kaiserschnitte oder Eingriffe nötig. Befürworter:innen der Methode empfehlen sie deshalb für alle interessierten Schwangeren als Ergänzung zur Geburtsvorbereitung. Besonders hilfreich kann sie sein, wenn Ängste oder negative Erlebnisse zu Schwangerschaft und Geburt existieren, zum Beispiel bei vorangegangen Fehlgeburten, Frühgeburten oder einem Geburtstrauma. Auch Frauen, die sich während der Schwangerschaft belastet fühlen, können durch die Vorgeburtliche Bindungsanalyse eine Erleichterung spüren. Das gilt etwa bei privatem oder beruflichem Stress, starken Schwangerschaftsbeschwerden oder ambivalenten Gefühlen gegenüber dem Muttersein.

Ob die Vorgeburtliche Bindungsanalyse bei Ihnen sinnvoll sein kann, hängt allerdings auch vom Anbieter ab. Bisher gibt es keine repräsentativen Studien, die einen Effekt nachweisen. Zudem ist keine einheitliche Ausbildung vorgeschrieben. Im Prinzip kann jeder das Programm durchführen, auch wenn er kein gut organisiertes Seminar wie von der Aktion Leben in Österreich besucht hat. Eine Psychotherapie kann die Vorgeburtliche Bindungsanalyse außerdem in keinem Fall ersetzen. Bei einer Schwangerschaft gilt deshalb: Sprechen Sie zunächst mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin über etwaige Belastungen, bevor Sie sich für Ergänzungen wie die Vorgeburtliche Bindungsanalyse entscheiden.

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