"In Deutschland wird zu viel operiert“: Dr. Frank Wittig im Interview

Nirgends wird so viel operiert wie in Deutschland. Das ist jedoch nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal für unsere medizinische Versorgung. SWR Medizin-Journalist und Autor Dr. Frank Wittig spricht in seinem Buch „Hightech-Schamanen: Wie Ärzte uns mit wirkungslosen Operationen abkassieren“ von „Nonsensechirurgie“, die nicht wirkungsvoller als die Beschwörungsformeln der Schamanen sein soll.

Eine Aussage, der auch Expertinnen und Experten zustimmen. Sie gehen davon aus, dass bis zu 30 Prozent der medizinischen Leistungen in westlichen Industrieländern auf Überversorgung entfallen. Einer Studie der Bertelsmann Stiftung zufolge kommt es nämlich jährlich zu knapp 70 000 Operationen an der Schilddrüse, obwohl es nur bei zehn Prozent dieser Eingriffe einen bösartigen Befund gibt. Ähnliche Werte nennt die Studie bei Eierstock-Operationen. Doch warum wird so häufig unnötig operiert? Und was können Patientinnen und Patienten tun, um sich zu schützen?

ÄRZTE.DE hat mit Dr. Frank Wittig über sein Buch gesprochen:

Ärzte.DE: Herr Dr. Wittig, in Ihrem Buch bringen Sie unsere moderne Medizin von heute mit Schamanismus in Verbindung. Sie setzen Medizinerinnen und Mediziner mit „Hightech-Schamanen“ gleich. Was hat es mit dem Begriff auf sich?

Dr. Frank Wittig: In der Pharmazie ist es seit Jahrzehnten Standard: Neue Medikamente müssen in kontrollierten Studien zeigen, dass sie etablierten Arzneimitteln mindestens ebenbürtig oder besser als ein Placebo sind. In der angloamerikanischen Medizin gibt es entsprechende Studien auch für medizinische Eingriffe. Es heißt dann, man operiert „against sham“ – gegen Schamanismus. In der Kontrollgruppe wird also nur das gleiche Brimborium aufgeführt wie beim richtigen Eingriff. Die entscheidende Prozedur wird aber nicht ausgeführt. Wayne Jonas, ein Orthopäde von der Universität Oxford, hat eine Metaanalyse von 53 solcher Studien „against sham“ durchgeführt. Bei etwa der Hälfte der Studien war der Hightech-Schamanismus genauso erfolgreich wie der echte Eingriff.    

Ärzte.DE: Welche Parallelen gibt es zwischen dem spirituellen Schamanismus und unserem biomedizinischen Krankheitsmodell? Oder sind sie von Grund aus verschieden?

Dr. Frank Wittig: Anthropologen erklären die Wirksamkeit schamanischer Behandlungen bei indigenen Völkern mit dem „schamanischen Dreieck“. Der Schamane glaubt an seine Fähigkeiten, „medizinische Probleme“ auf spiritueller Ebene lösen zu können. Natürlich ist auch der Patient von dieser Möglichkeit überzeugt. Und für die Stammesgemeinschaft ist dieses Prinzip des Heilens eingebunden in eine magisch-animistische Weltsicht und erhält so eine hohe Plausibilität. Dasselbe Schema liegt auch bei uns vor: Wir sind die Eingeborenen einer naturwissenschaftlich geprägten Kultur mit einem in diesem Zusammenhang plausiblen biomedizinischen Krankheitsmodell. Und dass dieser „Glaube“ ausreichen kann, um per „Hightech-Schamanismus“ Heilung zu bewirken, zeigt unter anderem die oben erwähnte Studie. Zu den Parallelen gehören aber auch beeindruckende Rituale, Insignien der Heiler (Stethoskop um den Hals) oder die Aura des überlegenen Spezialistentums, die der Heiler zur Schau trägt.   

Ärzte.DE: Warum sind gerade Orthopäden und Chirurgen „Meister des Hightech-Schamanismus“?

Dr. Frank Wittig: Wirksamer Hightech-Schamanismus und die Placebo-Wirkung zeigen: wir sind medizinisch suggestibel. Das heißt wir lassen uns beeindrucken mit Folgen für unsere Gesundheit oder zumindest für unser Wohlbefinden. Aus der Placebo-Forschung wissen wir, dass das besonders gut bei Schmerzen wirkt. In der Orthopädie geht es häufig letztlich um die Behandlung von Schmerzen. Da funktioniert Hightech-Schamanismus besonders gut. So unterliegen viele Orthopäden der Illusion, ihre Erfolge beruhten auf der mechanistisch erklärten Wirksamkeit ihrer Eingriffe. Prozeduren, die längst der medizinischen Wirkungslosigkeit überführt wurden, werden weiter praktiziert.

Ärzte.DE: In Ihrem Buch betonen Sie (in dem Zusammenhang) wie wichtig es ist, sich beispielsweise eine Zweitmeinung einzuholen, um sinnlose und riskante Operationen zu vermeiden. Worauf müssen Patientinnen und Patienten achten?

Dr. Frank Wittig: Sie sollten sich an ihre Krankenkasse wenden. Da erfahren sie, für welche Fälle die Kasse die Kosten für die Zweitmeinung übernimmt. Die Kasse sollte aber auch in jedem Fall behilflich sein, qualifizierte Expertinnen und Experten für die Zweitmeinung zu finden. Eine schlechte Idee ist es, Dr. Google um Rat zu fragen.  

Ärzte.DE: In dem Kapitel „Die unterschätzte Macht des Placebos“ sprechen Sie von einem enormen Potenzial der wissenschaftlich validierten Placebo-Medizin. Welche Möglichkeiten könnten sich uns zukünftig bieten?

Dr. Frank Wittig: Für die Placebo-Wirkung gibt es mittlerweile eine DFG-Forschungsgruppe, die das Potenzial der Placebos in die klinische Praxis überführen soll. Das wünsche ich mir auch für den Hightech-Schamanismus. Wir haben viele medizinische Probleme, für die der „Ingenieurs-Arzt“, der defekte Teile der Körpermaschine repariert, nicht die richtigen Konzepte hat. Psychosomatische Krankheiten, chronische Krankheiten. Suggestive Behandlungen wirken über die Psyche. Sie stimulieren die Selbstheilungskräfte. Das funktioniert übrigens auch mit offenen Placebos: „Wir haben hier ein Placebo, also eigentlich eine wirkungslose Substanz. Aber wir haben gute Erfahrungen damit gemacht.“ Man will die Patientinnen und Patienten ja nicht hinters Licht führen. So könnte man auch mit Hightech-Schamanismus arbeiten. Denkbar ist eine Kombination mit Hypnose. Oder auch mit medizinischen Aktionen in der virtuellen Realität des Cyberspace, die von den Patientinnen und Patienten durchgeführt werden. Man müsste diese Maßnahmen auf die Persönlichkeit der Patientinnen und Patienten zuschneiden. Ich bin überzeugt, dass die Suggestivmedizin der Medizin einen Schritt nach vorne ermöglichen könnte.    

 

Buchcover: "Hightech-Schamanen"
Frank Wittig - Hightech-Schamanen

ISBN: 78-3-7423-1607-3

erschienen im riva Verlag 

Das Interview führte unserer Redakteurin Tamara Todorovic.

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