Veröffentlicht: 12.05.2025 | Lesezeit: 5 Minuten

Ob bei Rückenschmerzen, Gelenkproblemen oder Bewegungseinschränkungen – die Faszie wird bei einer Behandlung oft wenig beachtet. Dabei zeigen Forschungsergebnisse der letzten Jahre, dass Faszien durchaus eine Rolle bei Schmerzempfinden und Genesung einnehmen.
Die Faszien-Physiotherapie greift diese Erkenntnisse auf. Als Ergänzung zu anderen Therapieformen sollen neben Muskeln und Gelenken auch Faszien in die Therapie einbezogen werden. Wie das genau funktioniert und wer davon profitiert, hat uns Physiotherapeutin Gabriele Kiesling im Interview erläutert.
Der Begriff Faszien bezeichnet eine besondere Gewebestruktur im Körper. Sie umgibt Muskeln, Organe, Nerven und Gefäße, hält diese zusammen und kann auch Signale aus den einzelnen Bereichen übertragen. Bei Spannungen können Faszien verkleben oder sich wieder lösen. Welche Funktionen Faszien im Körper übernehmen und wie wichtig sie für einzelne Abläufe sind, ist noch nicht abschließend geklärt. Denn viele Jahren wurden sie als „unbedeutend“ nicht weiter untersucht.
ÄRZTE.DE: Lassen Sie uns zu Beginn über die Grundlagen sprechen. Für wen ist die Faszien-Physiotherapie gedacht? Bei welchen Problemfeldern kann sie angewendet werden?
Gabriele Kiesling: Meine Faszien-Physiotherapie richtet sich an Menschen mit reversiblen, also umkehrbaren, Funktionsstörungen des Haltungs-und Bewegungssystems. Sie ist insbesondere bei neuroorthopädischen Krankheitsbildern, in der Sportmedizin, aber auch ganz einfach präventiv bei alltäglichen Beschwerden, beispielsweise durch einen ungesunden Bewegungsstereotyp, wie Handynutzung, Sitzhaltungen oder andere Überbeanspruchungen wirksam.
ÄRZTE.DE: Gibt es auch Diagnosen oder Beschwerden, bei denen die Faszien-Physiotherapie nicht angewandt werden sollte?
Gabriele Kiesling: Das sind die typischen, medizinischen Ausschlussdiagnosen, wie akute Verletzungen etc.
ÄRZTE.DE: Wie unterscheidet sich die Faszien-Physiotherapie von anderen Konzepten der Physiotherapie?
Gabriele Kiesling: In der Faszien-Physiotherapie steht die Diagnose zur Ursachenerkennung an erster Stelle.
Anamnese, Funktionsuntersuchung und Palpation weisen den Weg dorthin. Das Kiesling-Konzept mit ausreichender Behandlungszeit zeigt den Ablauf und das Verständnis zur Systematik der Behandlung auf. Ein Beispiel: Bei bestehenden starken Schmerzen liegt der Fokus zunächst einmal auf den Schmerzreduktion und der Gelenkkonditionierung, anstatt, wie zu oft empfohlen, auf dem Krafttraining oder dem Muskelaufbau.

In der deutschen Physiotherapie-Praxis kann im kassenüblichen 20 Minuten Takt heute oft nur am Symptom gearbeitet werden. Das Wissen über die Faszien-Physiologie steckt dort auch oft noch in den Kinderschuhen.
ÄRZTE.DE: Sie haben die Faszien-Physiotherapie begründet. Wie sind Sie darauf gekommen, dass genau dieser Bereich in der Physiotherapie noch fehlt?
Gabriele Kiesling: Vor ca. 10 Jahren habe ich Dr. Robert Schleip auf einem Faszien-Kongress kennengelernt. Er ist einer der führenden internationalen Faszienforscher und heute an der TU München tätig. Seine Ausführungen haben mir schlagartig gezeigt, Faszien-Therapie ist viel mehr, als mein gutes altes Wissen über das Bindegewebe. Gemeinsam haben wir dann die Faszien-Physiotherapie begründet. In Bezug auf Sensorik ist das Wissen über die Faszien heute unverzichtbar, für den Therapieerfolg. Meine Weiterbildungen in Osteopathie und der Manuellen Therapie sind in das Wissen in dieser Therapie inkludiert.
Genau das fehlt heute in der Physiotherapie-Ausbildung. Meiner Auffassung nach, sollte Physiotherapie multimodal verabreicht werden. Dafür haben wir dieses Konzept verfasst.
ÄRZTE.DE: Wie sind Sie bei der Entwicklung der Therapie vorgegangen?
Gabriele Kiesling: Ich habe teils empirisch meine eigenen Erfahrungen aus über 40 Jahren Praxistätigkeit in meine früh entwickelte „Myofaszialen Physiotherapie“ einfließen lassen. In Weiterbildungen für Kollegen und Ärzte habe ich das Konzept dann neu ausgearbeitet, unterrichtet und auch dadurch weitere Erfahrungen gemacht. Diese habe ich dann in Buchform veröffentlicht (Physiotherapie für zu Hause, Riva Verlag 2018). Hinzu habe ich auf meinem YouTube Kanal und in Social Media Übungen und Beispiele zur Therapie veröffentlicht und aktualisiere diese bis heute.
ÄRZTE.DE: Gibt es wissenschaftliche Studien, die die Wirkung der Faszien-Physiotherapie belegen?
Gabriele Kiesling: Ich habe im „deutschen institut für qualität in der physiotherapie (diqp) Berlin“ zwei randomisierte Studien dazu gemacht. Die eine zeigt die Wirksamkeit dieser Übungsmethodik, die andere den Erfolg einer Gruppenstudie mit einer Woche Faszien-Physiotherapie auf.
ÄRZTE.DE: Wie läuft eine Sitzung bei der Faszien-Physiotherapie ab?
Gabriele Kiesling: Eine Sitzung dauert in der Regel eine Stunde. Am Beginn steht die spezifische Anamnese auf einen hierfür entwickelten fünfseitigen Befundbogen. Es folgen Testungen und palpatorische Maßnahmen.
Die Inhalte der daraus resultierenden Diagnose werden dem Patienten erläutert und gemeinsam das weitere Vorgehen besprochen. Es folgt bei Bedarf eine „Hands on Therapie“, oder auch direkt eine „Hands off Therapie“ mit Anleitungen und Einübung der jeweiligen Maßnahmen und Übungen. Mein Konzept „Physiotherapie für zu Hause“ kann durch ein entsprechendes Buch aus meiner gleichsprachigen Reihe gefestigt vermittelt werden. Im Einzelfall werden die Übungen von mir auf dem Handy des Patienten aufgenommen und kommentiert.
ÄRZTE.DE: Müssen die Klienten und Klientinnen bei der Faszien-Physiotherapie auch zu Hause Übungen machen? Wenn ja, wie sehen diese aus?
Gabriele Kiesling: Merkmal meiner Faszien-Physiotherapie ist nach dem bereits genannten „Hands off Prinzip“ die Edukation zur Selbstwirksamkeit und Selbstverantwortung des Patienten. Daher spreche ich nicht explizit von „ müssen“. Wenn das Verständnis, die Überzeugung und der spürbare Nutzen beim Klienten / Patienten da sind, erübrigen sich oberlehrerhafte Anweisungen von selbst.
Die Übungen sind unkompliziert, biomechanisch- und Faszien erprobt. Die Methodik ist hilfreich, da nicht nur die Übung mit Bild und Text genau erklärt sind. Es gibt immer den Hinweis „Aufgepasst“, um Fehler bei der Ausführung zu verhindern. Die Rubrik „Warum“ erklärt die Wirkung der Übung medizinisch exakt. Das schärft das Bewusstsein, bei Beschwerden, das Richtige zu tun; und nicht durch beispielsweise übertriebenes Dehnen, die Beschwerden zu verstärken.

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